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Sonntag, 29. Dezember 2013

Heimlichkeit & Staunen

Es sind die Gratwanderungen, die ermüden. Wenn man sich an den Abgründen des Vergessens entlang hangelt, ahnt man nicht, wieviel Wegstrecke man schon hinter sich gebracht hat. Die unsichtbaren Netze, die sich über die gelebte Erinnerung spannen, geben nur vor, einen aufzufangen. Drei oder vier Fingerabdrücke genügen, um in Panik zu verfallen. Man hinterläßt Spuren, wo keine Liebe hingelangt.

Dagegen sind die Tritte im Schnee, denen der Einsame in Franz Schuberts „Winterreise“ folgt, fast schon ein Glücksfall, so selten und wertvoll wie ein handgeschriebener Brief. Hinter den aufgespannten Kontrollschirmen kann sich keiner mehr verbergen.
Ich bin auf der Suche nach dem Staunen. Ist es irgendwo zwischen einem Kindergeburtstag und dem ersten Beischlaf auf der Strecke geblieben? Oder bereitet es nur zu viel Mühe, sich darauf einzulassen? Macht seine Zwitterstellung zwischen bloßer Verblüffung und Außer-sich-sein die Einordnung so schwer? Ich behaupte, auch Staunen ist Arbeit, eine Arbeit, in deren Prozeß ein Produkt entsteht. Die Erkenntnis, die wir dem Staunen abringen, läßt sich vielleicht nicht in Worte fassen. Doch gerade das macht sie mir vertraut. Ich trage etwas in mir, das nicht verifizierbar ist, also auch nicht digitalisiert werden kann.


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Ein anderes Wort, das in die Spielzeugkiste verbannt wurde, ist Heimlichkeit. Warum, frage ich mich, verwende ich es nicht bei meiner täglichen Arbeit, dem Schreiben von Gedichten etwa. Das Weihnachtslied „So viel Heimlichkeit“, das in Kindergärten und Schulhorten der DDR gesungen wurde, fand ich immer etwas peinlich. Einst bestand die Hoffnung (oder die Befürchtung), daß es in absehbarer Zeit in Vergessenheit gerät. Jetzt geistert es wie so viele andere Lieder, die ich als Kind schon nicht mochte, durch die virtuellen Schaukästen, bis es mittels eines finalen Knopfdruckes gelöscht wird. Ein Grund, warum ich das Lied nicht mag, sind die verharmlosenden Aufzählungen, der Einbruch des Niedlichen und Gegenständlichen in eine viel umfassendere Gespanntheit, die mit Neugier nur unvollkommen umschrieben wäre.
Wie herrlich waren die heimlichen Blicke in Schränke und hinter Vorhänge, wo die Eltern die Weihnachtsgaben, in Kartons oder in Packpapier gewickelt, aufbewahrten! Es fehlte nicht an Kühnheit, diese Pakete aufzuschnüren, obwohl man manchmal schon von ihrer Form auf den Inhalt schließen konnte. Letztendlich ließ ich sie unangerührt. Der Wunschzettel hatte sein Schuldigkeit getan. Ich schlief ruhiger und war doch seltsam erregt. Die Grenze zwischen Ahnen und Wissen nicht überschritten zu haben, steigerte die Lust ins Unermeßliche. Später habe ich diese Erfahrung ignoriert und mich von den Gewißheiten enttäuschen lassen. Ein Kuß der nach Kaugummi oder Zigarettenrauch schmeckt, entzaubert die reine Idee eines Kusses. Wieder Jahrzehnte danach gaukelt einem die Erinnerung vor, die nach Kaugummi oder Zigarettenrauch schmeckenden Küsse seien köstlicher gewesen als alle, die dann folgten.


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Das Heimliche – so steht es in den Märchen der Gebrüder Grimm – muß das Unheimliche einschließen, sonst wirkt es fade. Der Vorrat an Schrecklichem ist in den Grimmschen Märchen so groß, daß er fürs ganze Leben reicht. Nur um Haaresbreite verfehlt es die Kinder, die sich im Wald verlaufen haben. Obwohl man den glimpflichen Ausgang bereits kennt, staunt man, daß sie beim erneuten Hören oder Lesen wieder ungeschoren davonkommen. Das lateinische stupor läßt sich mit Erstarren oder Staunen, gar mit Stumpfsinn übersetzen. Starr vor Staunen wäre ich am Heiligabend gern gewesen, stattdessen bemerkte ich zuerst die Fehler der Versuchsanordnung. Der Plüschbär hatte die falsche Farbe, er schielte. Die Bücher entsprachen meinen Interessen von vor einem halben Jahr. Die Gummi-Indianer paßten in Größe und Bemalung nicht zu meiner restlichen Sammlung usw. usw. Auch der Gabentisch, so meine frühe Einsicht, bot nur Gewißheiten. Das Staunen des Kindes war vorgetäuscht.
Unheimliches wurde mit Schweigen bedacht oder bagatellisiert, unter den Teppich gekehrt oder, wenn es erzieherischen Maßnahmen dienlich war, als Drohung im Raum stehen gelassen. Es gab Unheimliches, das an einem selbst stattfand. Falls das Unaussprechliche entdeckt wurde, drohte dem Kind galoppierende Verblödung. Die Phantasie malte sich das in Höllenfarben aus. Ich hatte ja schon Kinder mit Wasserkopf und Tobsüchtige gesehen. Dank meinen Großeltern väterlicherseits hatte ich genaue Vorstellungen von einer Irrenanstalt. (Damals scherte sich noch keiner um politisch korrekte Bezeichnungen.) Meine Großeltern waren keine Insassen, sie arbeiteten dort, und ich verbrachte einen Teil meiner Ferien bei ihnen. Die Anstalt glich einem Dorf, nur daß die Mehrzahl der Fenster vergittert war. Hier wäre ich aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, hätte mich nicht die permanente Angst begleitet, einmal hinter diesen Gitterfenstern zu landen. Dort herrschte stupor bestenfalls als Stumpfsinn. Anders als in den Märchen kam hier keiner heil wieder heraus. Ich habe davon ausführlich im Roman „Der Schnakenhascher“ erzählt.


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Das Staunen ist ein Geschenk, genauso wie der Glaube an Wunder. Zu beidem muß man sich die Überzeugung, daß es nicht erklärbare Erscheinungen gibt, bewahren. Unserer Generation wurde diese Überzeugung schon mit dem ersten Schultag ausgetrieben. Ursache und Wirkung, Anstrengung und Erfolg – diese Paare bildeten die Konstanten, gegen die das dunkle Geheimnis keine Chance haben sollte. Hell waren die Räume und hell die Stimmen, die zukunftsfroh der Sonne entgegensangen. Die Sonne, hieß es, sei ein Stern unter Sternen. Die aufgehende Sonne war mehr als das, sie war ein Sinnbild, und Sinnbilder gehörten wieder in eine andere Sphäre. Den Symbolen des Aufbruchs wäre ich bedenkenlos gefolgt, hätte man sie in ein weniger nüchternes Gewand gekleidet. Dem Sozialismus, wie er uns nahegebracht wurde, fehlte aber der magische Glanz. Das Dogma von der Gesetzmäßigkeit aller Entwicklung hin zu einer klassenlosen Gesellschaft stutzte der Phantasie die Flügel. Unsere Lehrer schienen den Botschaften, die sie zu verkünden hatten, ebenfalls zu mißtrauen. Zu oft wechselten die Zutaten, so daß sie selbst nicht mehr hinterherkamen.
Aus heimlich wurde klammheimlich. Wer etwas klammheimlich tut, trägt schon vorher Bedenken wegen der Rechtmäßigkeit seines Tuns. Die Verbote und Tabus wuchsen in dem Maße, in dem die Welt ihre Entzauberung erfuhr. Der götterlose Himmel war zum Laboratorium für piepsende und silberfischige Wesen degradiert worden. Haben wir darüber gestaunt? Ich glaube nicht. Vielmehr sollte die Eroberung des Kosmos unseren Forscherdrang wecken. Das Unerklärliche wurde auf ferne Planeten ausgelagert. Sah man genauer hin, wiederholte sich dort nur das, was sich auf der Erde vor Millionen oder Milliarden von Jahren abgespielt hatte. Über intelligente Fliegen oder fortpflanzungsfähigen Schleim konnte man sowenig staunen wie über Dinosaurier oder Kopffüßer. Eher schon über das Rätsel, warum von den vier Bartträgern, die jeweils ein ganzseitiges Foto im einbändigen Lexikon bekommen hatten, der Schnauzbärtige nicht mehr erwähnt werden durfte. Ich war froh, daß es nicht einen der beiden mit den schönen Vollbärten betraf. In einer ziemlich bartarmen Zeit aufwachsend, hielt ich einen Vollbart für die Verkörperung absoluter Weisheit. Ob es sich dabei um die Sehnsucht nach einem Übervater handelte, weiß der Himmel.

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Heimlich besuchte ich einen weißbärtigen Kunstmaler, der im Haus meines Zahnarztes unterm Dach sein Atelier hatte. Niemand hatte es mir verboten, dorthin zu gehen, weil ich die Besuche für mich behielt. Mein Instinkt sagte mir aber, daß es meinen Eltern nicht recht sein würde, also brachte ich sie gar nicht erst in Verlegenheit. Hier durfte ich ungestört staunen und den Glauben an die Gestaltwerdung einer Idee verwirklicht sehen. Vorwiegend waren es Christusköpfe, fein mit Bleistift oder Rötel aufs Papier gezeichnet, und natürlich erkannte ich die beiden Mosaiken überm Portal der Paul-Gerhardt-Kirche darin wieder. Das Betreten der Kirche war mir untersagt. Ich rächte mich, indem ich Mosaiksteinchen aus den Evangelisten an den Seitenkappellen herausschlug.
Klammheimlich schlich ich mich doch einmal am Ende eines Gottesdienstes in die Kirche. Der Reiz des Verbotenen mischte sich mit der Erwartung von etwas Unanständigem. Warum sonst wollten meine Eltern nicht mit mir hineingehen? Stattdessen umgab mich der Geruch alter Frauen und feuchter Mäntel. Die Kälte des Raumes war mir unangenehm, auch fand ich in der schlichten Einrichtung wenig von dem wieder, was ich mir erhofft hatte. Unanständig war höchstens die fast nackte Gestalt, die mit Händen und Füßen an ein hölzernes Kreuz genagelt war. Ich hatte zwar schon Abbildungen der Kreuzigung gesehen, wußte auch, daß es sich um Jesus handelte, aber gehörte der nicht zu einem finsteren, längst vergangenen Zeitalter? Der aus Holz geschnitzte Körper wirkte hingegen so lebensecht, daß ich meinte, die Nägel durchbohrten meine Hände und Füße. (Es war wohl eine abgeschwächte Form von Wundmalschmerz, wie er bei besonders frommen Menschen manchmal auftritt, bis hin zu den als Wunder geltenden sichtbaren Stigmata.) Ich spürte, wie er der Schmerz auch von meinen Armen Besitz ergreifen wollte. Die Schwere des Körpers zerrte an den Armen, so daß die Schultergelenke aus ihren Pfannen gedreht wurden und man das Zerreißen der Sehnen jeden Moment erwartete. Tiefe Hoffnungslosigkeit ging von dem Gekreuzigten aus. Die Erschütterung war enorm. Als atheistisch erzogenes Kind hatte ich ja keine Ahnung von der Auferstehung und sah nur die reine Qual, die ein süßes und wollüstiges Mitleid erregte.
Von den Christus-Porträts im Künstleratelier war mir das leidende lieber als das triumphierende. Da der gemarterte Körper fehlte, strahlten die Gesichtszüge lediglich etwas Entrücktes, Vergeistigtes aus. Der Maler hatte den Schmerzenskopf mit der Dornenkrone auf eine Staffelei gepinnt, als ob er noch daran arbeitete. Tatsächlich stand es im immer halbfertigen – für mich vollendeten – Zustand an der gleichen Stelle neben der Tür. Für seinen Broterwerb kopierte der Meister nach Paßbildern. Seine Kundschaft waren ältere Damen, die Familienangehörige porträtieren ließen, ihre Ehemänner, die im Krieg gefallen waren, oder die Enkelkinder, deren Anmut so rasch verflog. Wie bewunderte ich die fleckige Hand, die mit wenigen Linien die Umrisse maßstabgerecht aufs Papier zeichnete, um dann durch Stricheln, Schraffieren und Verreiben der Pigmente zu Schatten das Original an Perfektion zu überbieten. Wir haben kaum ein Wort miteinander gewechselt. Es war die Ehrfurcht vor dem Handwerk, die mich stumm machte, und auch der Maler respektierte meine Ergriffenheit. Er wußte noch, daß man einem Kind nichts erklären muß, wenn man es ernst nimmt.

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Menschen, die das Staunen noch nicht verlernt haben, erregen oft Anstoß. Das verbindet zum Beispiel Kinder und Künstler. Wie man Kindern das Staunen austreibt, habe ich bereits angedeutet. Bei Künstlern ist die Sache komplizierter. Ihre Einmischung wird nur dort gern gesehen, wo sie kontrollierbar ist, auf Bühnen und in Konzertsälen, in Galerien und Museen, auf der Kinoleinwand oder in Büchern. Der Schaden bleibt begrenzt, sozusagen innerhalb der Gemeinde. Weil das Staunen in der unheimlichen Welt nicht vorgesehen ist, vermutet man dahinter nicht selten Blödheit. Die privilegierten Blöden, denen ein gewisser Sonderstatus zugebilligt wird, vorausgesetzt, sie halten sich an die Spielregeln, dürfen in vielen Gewändern modernen Narrentums auftreten. Sie, die doch eigentlich das Staunen in die Welt tragen müßten, werden ihrerseits bestaunt wie Affen im Käfig. Der Sensationshunger jenseits des Käfigs wächst ununterbrochen, da sich der Schauwert des scheinbar Anstößigen immer schneller abnützt. Das Publikum merkt zu rasch, daß die Provokation nur vorgetäuscht, der Skandal als zusätzlicher Werbeeffekt einkalkuliert war. So verwischen sich die Bedingungen, unter denen Kunst produziert und konsumiert wird.
Der staunende Künstler, der sich den Spielregeln nicht unterwirft, gilt hingegen als naiv, wobei die Grenzen zu dem, was man als stumpfsinnig ansieht, fließend sind. Auch er wird, sofern man ihn nicht im Getöse des Betriebs völlig übersieht, bestaunt. Aber nicht für sein Werk, sondern dafür, daß er aus seiner Blödheit kein Kapital schlägt. Es wird nicht an Ratgebern fehlen, die den Naiven auf sein Manko hinweisen, und falls er nicht unerschütterlich an sich glaubt, wird er schon in der nächsten Saison mit seiner Naivität kokettieren. Nun kann man ihn endlich eingemeinden. Sein Stupor, das Erstarren vor dem Unfaßbaren, dem er sein Stammeln und Stottern verdankt, seine hingerotzte Wut, wird endlich der Verwertung zugeführt.
Vielleicht liegt es an diesem reibungslosen Automatismus, daß Kunstskandale so oft einen fatalen Beigeschmack haben. Die protestierenden Tierschützer im Vorfeld eines Theaterspektakels, bei dem Tiere geschlachtet werden, oder das buhende Publikum im Saal sind Teil der Inszenierung. Die Empörten spielen ihren Part so perfekt, als ob sie ihre Rolle von einer eingeblendeten Texttafel ablesen. Verleger und Filmproduzenten werben schon vor Erscheinen ihrer Mega-Produkte mit den darin vorkommenden Tabuverletzungen. Der Käfig mit den onanierenden Affen lockt immer genügend Schaulustige an. Schaulust ist der Ersatz für das aus unserer Welt verbannte Staunen. Und statt das Geheimnis, das allem Schöpferischen vorausgeht, zu bewahren, verlangt der Markt seine vollständige Enthüllung. Ohne sie bleibt das Kunstwerk suspekt, ja es stört den Betrieb geradezu, da es offenbar gar nichts Obszönes oder wenigstens Neurotisches vorzuweisen hat.


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Staunen und Hunger nach Sensationen sind ein ungleiches Paar. Beim Staunen kommt das Überraschende einer Situation oder einer Erscheinung hinzu, die Reaktion ist allerdings mehr nach innen gerichtet. Daher auch der leicht verwirrte Eindruck, den der Staunende auf andere macht. Für einen kurzen Moment gibt sich der Staunende eine Blöße, wird lächerlich, wird angreifbar. Zugleich sprechen wir von einem Zustand, den wir mit uns selbst abmachen müssen, auch dann, wenn wir Teil einer staunenden Menge sind, etwa bei einem Zirkusbesuch oder in einer Zaubershow. Die Zirkusmanege oder das Varieté, in dem ein Zauberkünstler auftritt, sind gewissermaßen Grenzorte, in denen sich Sensationslust und Staunen begegnen. Der Staunende kann sich in der Masse verbergen, auch wenn sie weniger ergriffen ist als er und nur vom Nervenkitzel angelockt wurde. Der erste Zirkusbesuch eines Kindes gewährt noch das pure Gefühl, etwas Wunderbarem beizuwohnen. Schon beim nächsten Mal achtet das Kind mehr auf die technischen Details, läßt sich nicht mehr für „dumm“ verkaufen. Ich habe solche Enttäuschungen erlebt. Das Wissen um die Tricks, auch wenn man sie nicht durchschaute, schmälerte den Genuß, es brachte einen dazu, altklug und abgeklärt zu reden; man wollte ja nicht mit den Kleinen, die offenen Mundes auf dem Schoß oder den Schultern ihrer Eltern saßen, in einen Topf geworfen werden. Noch später wird man sagen, daß ein aufgespanntes Netz unter der Hochseiltruppe deren Können herabsetze, weil es nicht um Leben und Tod gehe. Der Sensationssüchtige hat über den Staunenden gesiegt.
Hat einer meiner Altersgenossen, damals waren wir dreizehnjährig, über den ersten Schritt eines Menschen auf dem Mond gestaunt? Meine Erinnerung an den Tag ist ausgelöscht. Zu viele Bilder bekam ich erst mit Verspätung zu Gesicht, so daß ich nicht einmal weiß, ob ich vor dem Fernseher saß. Man muß hinzufügen, daß meine Eltern 1969 noch kein Westfernsehen empfingen. Brachten die Nachrichten der „Aktuellen Kamera“ überhaupt die Liveaufnahmen von der Mondlandung?
Tatsache ist, daß ich nicht den geringsten Zweifel am Gelingen der amerikanischen Mondmission hegte, trotz vorausgegangener Pannen und des bis dahin unangefochtenen Vorsprungs der Sowjetunion im Weltraum. Der Glaube an die Perfektion der Technik hatte nur ein paar Kratzer abbekommen, und die saloppe Art, mit der die Amerikaner die Sache angingen, zerstreute die Zweifel. Hier der Heldenkult um die Kosmonauten als Sendboten des Kommunismus, dort Armstrongs Formel vom „Job, der zu schaffen ist“. Diese Lässigkeit hatte was von einem Westernhelden. Sie imponierte mir. Heimlich wurde ein Bildband über die Mondlandung – er stammte aus einem westdeutschen Verlag – weitergereicht, während die offizielle Propaganda nicht müde wurde, uns für das sowjetische Mondspielzeug Lunochod zu begeistern. Das kam zwar erst ein Jahr später zum Einsatz, aber auch das bunt bebilderte Buch hatte seine Zeit gebraucht, bis es ein furchtloser Besucher durch die Grenzkontrolle zu schmuggeln wagte. Die Heimlichkeit der Lektüre machte erst den Reiz aus. Andernfalls hätte mich das Thema nicht so lange gefesselt. Schließlich fehlte es den realen Weltraumabenteuern an allem, was sie erst richtig aufregend gemacht hätte: außerirdische Intelligenz, Wurmlöcher, Zeitschleifen, Antimaterie etc. Die Steinwüste auf den Mondfotos war nicht annähernd so eindrucksvoll wie der Anblick des wechselhaften Trabanten von der Erde aus.

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Seitdem, seit den Pioniertagen der Raumfahrt, hat sich unser Weltbild ständig dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung anpassen müssen. Eigentlich dürfte man aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Das Gegenteil ist der Fall. Gewöhnt daran, die Welt nicht mehr zu begreifen, nimmt man die Entdeckung ferner Galaxien, fast so alt wie das Universum selbst, und immer winzigerer Elementarteilchen oder die gentechnischen Möglichkeiten zum Klonen der eigenen Spezies eher beiläufig zur Kenntnis. Wie die technischen Geräte, vor deren Innenleben jeder Laie kapituliert, bleiben auch die Modelle des Mikro- und Makrokosmos ohne Spezialkenntnisse ein Buch mit sieben Siegeln. Universelles Wissen – das Ideal der Aufklärung – ist im Zeitalter der größtmöglichen Verfügbarkeit von Informationen unerreichbarer geworden als je zuvor. Kein Wunder, daß Kontroversen eher auf Nebenschauplätzen ausgetragen werden. Darf ein Weihnachtsmarkt noch Weihnachtsmarkt genannt werden, ist die Bezeichnung Frau Professor diskriminierend etc.? Das Nahen eines Kometen lenkt für einen Moment die Aufmerksamkeit von Kopftuchstreit oder Gender-Diskussionen ab. Ist er vorbeigeschrammt, geht man wieder zur Tagesordnung über.
Weltuntergänge sind nie zuvor so exakt und medienwirksam vorhergesagt worden. Als im Dezember 2012 wieder mal so ein ultimatives Datum bevorstand, hat wohl kaum jemand ernsthaft von der Planung einer Silvesterparty Abstand genommen. Und wer schon wird sich über die Folgen der Erderwärmung den Kopf zerbrechen, wenn er bei -10° C den Schnee vorm Gartentor räumen muß! Auch Klimamodelle kann der Laie nicht mehr mit seinem Schulwissen beurteilen. Die Aufklärung versagt, wenn sie zur Glaubensfrage mutiert, und erst recht, wenn ihre Aussagen bedeuten, auf liebgewordene Gewohnheiten zu verzichten.
Enthüllungen, das große Geschäft mit der Gier nach dem Splitter im Auge des anderen, werden häufig eingeleitet mit dem Satz: Er/ sie/ die Hausbewohner/ die ganze Stadt/ der Staat oder die gesamte Öffentlichkeit schlechthin waren geschockt. Oder besser noch, sie standen unter Schock. Was am 11. September 2001 für die westliche Welt noch Ausdruck ehrlich empfundener Betroffenheit war, wird angesichts der inflationären Schockstarre, die bei jedem Anlaß über ganze Bevölkerungsgruppen hereinbricht, zur Farce.

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Weil das Unheimliche längst zur Alltagskultur gehört, ob im Frühstücksfernsehen oder in der vom Dauerregen zerweichten Zeitung, möchte man seine private Klimakatastrophe möglichst vielen Menschen mitteilen. Im Mittelalter diente der Pranger zur Bloßstellung des Einzelnen gegenüber der konformen Masse, mittlerweile wird das vom Einzelnen selbst in den sogenannten sozialen Netzwerken übernommen. Der Begriff sozial hat allerdings in den letzten 20 Jahren nicht nur einen Bedeutungswandel erfahren, vielmehr ist er zur Beliebigkeitsfloskel verkommen, die man vor allem dann voranstellt, wenn unsoziale Gepflogenheiten oder Tatsachen verschleiert werden sollen: der Sozialstaat, die sozial Schwachen, soziale Randgruppen, sozialverträgliches Frühableben, sozial abgefederte Sparmaßnahmen etc.
Wer nicht mehr staunen kann, darf sich zumindest noch wundern. Dazu liefert auch die seriöse Wissenschaft reichlich Material. Daß die Erde verbeult durchs Weltall schlingert, daß wir unsere Existenz nur einem winzigen Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie verdanken und daß Myriaden noch unentdeckter, bizarrer Lebewesen in den Tiefseegräben ihrer Namensgebung entgegen fiebern, sind solche Häppchen, mit denen wir das mit Wundern knausernde Tagespensum leichter ertragen.
Ein Nebeneffekt der entzauberten, unheimlichen Welt ist die steigende Sehnsucht nach Schicksalsweisern. Ernst Jünger hat diesen Trend bereits für das 20. Jahrhundert diagnostiziert („An der Zeitmauer“, 1959). Täglich lesen Millionen von Menschen weltweit ihr Horoskop, ganz gleich, wie widersprüchlich die für denselben Tag gegebenen Ratschläge in verschiedenen Zeitungen ausfallen. Das offensichtliche Nichteintreffen astrologischer Prophezeiungen hindert viele nicht daran, aus einer noch so vagen Vorhersage oder Empfehlung ein Körnchen Wahrheit für sich zu beanspruchen. Daß nicht konfessionell gebundene Menschen empfänglicher für Astrologie und andere Vorzeichen sind als die, die einer Glaubensgemeinschaft angehören, dürfte niemanden wirklich erstaunen. Hartgesottene Gottesleugner wird man vergebens dazu bewegen können, an einem Freitag, dem 13., wichtige Entscheidungen zu treffen. Sie wechseln diskret die Straßenseite, wenn eine schwarze Katze ihren Weg quert, klopfen auf Holz oder machen heimlich drei Kreuze. So gleicht sich der Mangel an Glauben durch Aberglauben aus, was keine Herabsetzung sein soll, vielmehr beweist es die Tatsache, daß der Mensch auch im Computerzeitalter und trotz anstehender Marsbesiedelung nicht aufhören kann, nach göttlichen oder wenigstens übersinnlichen Vorzeichen zu suchen. Hierher gehört übrigens auch die Wissenschaftsgläubigkeit, wo sie zum Untermauern eigener Befindlichkeiten oder zur Durchsetzung ganz egoistischer Interessen dient. Expertenmeinungen, die den eigenen Standpunkt bestätigen, bekommt man so wohlfeil wie Heilsbotschaften.
Heimlichkeit und Staunen behaupten also weiter ihren Platz im Leben vieler Zeitgenossen. Ist ihre Verteidigung gegen die allseits befürchtete Abschaffung der Privatsphäre und gegen die elektronischen Taktvorgaben im Tagesablauf womöglich überflüssig? Empfinden wir es als Verlust, wenn der Schauer des Einmaligen und des nicht Mitteilbaren immer öfter ausbleibt? Noch haben wir es vielfach selbst in der Hand, wo und wem wir unsere ideellen oder realen Fingerabdrücke hinterlassen, um zur Gemeinschaft der Unheimlichen dazuzugehören. Es wird aber nicht ausbleiben, daß die Rückzugsgebiete spärlicher werden, und vor allem werden sie härter umkämpft sein.

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Es sind die Gratwanderungen, die ermüden. Zwischen Vergessen und Erinnern schlängelt sich der Pfad vom fern Versunkenen ins fern Vernebelte. Zurückschauen erhöht die Gefahr zu stolpern, bedeutet, das Tempo zu vermindern. In einer Zeit, die der Beschleunigung huldigt, auch wenn es an Mahnungen nicht fehlt, ist jedes Innehalten ein Störfaktor. Ohne die Pausen, in denen ich Erinnerungen nachhänge und sie mit dem, was mich am Tage beschäftigt hat, in Beziehung setze, käme ich mir aber fremdbestimmt und ferngesteuert vor, wie jenes Mondmobil, das alle Aufgaben präzise erfüllt hat, doch nie die Schönheit der aufgehenden Erde empfand. Ich habe keine Ahnung, wieviel an eigenen Erlebnissen unwiederbringlich verloren ist. Heimlich haben sie sich davon gestohlen. Dann wieder überrascht mich eine Begebenheit, von der ich nicht vermutete, daß sie noch abrufbar war. Und weil sie nirgendwo sonst als in meinem Kopf aufbewahrt wird, ist sie sicher vor der Sammelwut anonymer Späher und ihren unersättlichen Datendepots. Niemand kann wissen, wie lang die zu noch bewältigende Wegstrecke sein wird, und ob ihn unterwegs einmal die Sehnsucht nach dem Unbekannten so heftig packt, daß er alles Vertraute hinter sich läßt und einen Sprung wagt, ohne den Ort des Auftreffens zu kennen. Nur, daß das Ende der Wanderung ein letztes großes Staunen bereithält, dessen bin ich mir sicher.


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