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Donnerstag, 7. November 2013

Streuobstwiesen

Vom Finden, Sammeln, Aufbewahren


Noch ein Glossar?

Nach dem Erscheinen des Buches „101 Asservate – Alter Worte Welt“ bekam ich viele Anregungen auf Lesungen, per Post oder per E-Mail: einzelne bedrohte Wörter oder gleich ganze Wortlisten, oft mit dem freundlichen Hinweis, dieses und jenes habe man vermißt, und es gab auch Lücken, die mir selbst ärgerlich schienen, weil ich sie erst zu spät bemerkt hatte.
Obwohl ich mich durch das Interesse geschmeichelt fühle, jedes Wort als Geschenk betrachte, weigere ich mich, der Versuchung eines Folgebandes nachzugeben. Die Erfahrung lehrt, daß solchen Projekten meistens die Frische und das Ursprüngliche des Anfangs verloren gehen.  Schon gar nicht möchte ich mir das Etikett eines Laienetymologen und Wortklaubers anheften, der aus Mangel an aktuellen Stoffen das Museum der Sprache durchforstet, um hie und da ein wenig Staub wegzupusten und dabei doch nur das Abgestandene und Verbrauchte anpreist.  Wenn ich nun doch wieder die Zettelkästen hervorhole, und dem Klang längst verrauschter und verwehter Wörter nachhorche, geschieht das nicht in der Absicht, die Asservatenkammer aufzufüllen, vielmehr aus dem Wunsch heraus, den Reichtum unserer Muttersprache nicht ohne Not preiszugeben; will heißen, wo mit dem Wort auch das Bezeichnete selbst abhanden kommt, bleiben Leerstellen, die unsere Kultur und zuletzt unsere Existenz infrage stellen. 


Vom Gehen über Streuobstwiesen

Hin und wieder hebe ich einen angeschlagenen Apfel auf und beiße hinein, bis aus seinem Kerngehäuse Wurmkot krümelt. Den angebissenen werfe ich weg und stopfe mir die Taschen mit den am wenigsten beschädigten voll. Der Duft des Herbstes begleitet mich auf dem Weg nach Hause. Am heimischen Herd wird Mus oder Gelee gekocht. Die Vorräte an Zucker schmelzen dahin. Minimale Kenntnisse in Physik helfen einem, die Konserven haltbar zu machen. Man braucht die fest verschraubten Gläser nur abkühlen zu lassen.


Eine Eselsbrücke bauen

Die Konstrukteure dieser Welt haben das Schießpulver nicht erfunden. Sie wollen ja nicht, daß ihre Träume aus Stahl und Beton zu Staub zerfallen. Irgendwann müssen sie damit rechnen, doch bis dahin betreiben sie weiter ihr Stäbchenspiel, das wir auch als Mikado kennen. Der Esel merkt sich jeden Weg, den er einmal im Leben zurückgelegt hat. Aus diesem Grunde gelten Eselsbrücken als besonders stabil. So folgte ich dem Großen Wagen durchs Labyrinth der Sterne. Seit frühester Kindheit rumpelt er verläßlich über den nächtlichen Himmel. Tagsüber wird viel gebaut, auch Häuser, die lange Schatten werfen. Hat man sich erst den Raum erschlossen, wird man vorwärts kommen, ohne ständig irgendwo anzustoßen.


Die Schwerenot

An manchen Tagen möchte er sich einfach fallen lassen. Die Schwerenot hat ihn ergriffen, und man könnte ihn einen Schwerenöter nennen. Ein Bedeutungswandel, der nicht ganz nachvollziehbar ist, macht aus ihm einen Schürzenjäger. Obwohl er weiß, daß sein melancholisches Augenklimpern die Wirkung auf Frauen nur selten verfehlt, setzt er es nur sparsam ein, um Verwicklungen oder lebenslange Fußfesseln zu vermeiden. Auch der Epileptiker wird von Schwerenot heimgesucht. Dieser beißt sich eher auf die Zunge als im Zustand höchster Anspannung auf Brautschau zu gehen. Schlafwandler gehören zu einer anderen Spezies. Sie fühlen sich auf abschüssigen Dächern so sicher wie ein Weberknecht an der Wand.


Spannelang & nudeldick

Mit ihren spannenlangen & nudeldicken Wörtern macht sich die deutsche Sprache nicht unbedingt Freunde in der blitzgescheiten Welt. Fahnenflüchtig ist sie ja längt, und wer ihr hinterherflitzt, wird womöglich auf die Nase fallen. Es knackt im Gebälk, aus vollen Rohren zischt und pfeift es, wenn die Dampfmaschine vom Müßiggange erlöst wird. Kennen Sie noch das Dativ-E? Für den Hausgebrauch ist es kaum von Nutzen und die Worterkennungsprogramme halten es mittlerweile für einen Blinddarm. Das deutsche Liedgut fristet auch ein Schattendasein. Sonst würde man gleich einstimmen in „Spannelanger Hansl, nudeldicke Dirn, schüttelst du die Pflaumen, schüttle ich die Birn’. Schüttelst du die großen, schüttle ich die klein’. Wenn das Säcklein voll ist, gehn mer wieder heim.“ Ist nicht ganz logisch, weil Pflaumen normalerweise kleiner sind als Birnen, oder man muß sich ein Bäumchen-wechsle-dich hinzudenken. Die Spanne mit 20 cm anzugeben, wie heute allgemein üblich,  beweist, daß das Maß von Langfingern erfunden wurde.




Einen Katzensprung weit

Vom Glück kleiner Entfernungen wissen die Alten ein wehmütig’ Lied zu singen. Im Dorf meiner Großeltern, wo ich jedes Jahr einen Teil meiner Ferien verbrachte, war alles einen Katzensprung weit entfernt: der Bäcker, der Fleischer, der Konsum, die Kirche, das Kino. Kino war eigentlich die falsche Bezeichnung, eine von den Städtern übernommene, denn im Dorf hieß das Gewölbe, wo freitags Filme gezeigt wurden, nur der Festsaal. Man könnte allein darüber Geschichten erzählen. Von der Konkurrenz weltlicher Feierstunden zu den Gottesdiensten, vom Anbändeln & von bösen Händeln, von wechselnden Fahnentüchern & Losungen. Doch darum geht es hier nicht. Obwohl es für das Kind nicht so leicht war, den Katzensprung zum Bäcker, bei dem es nur eine bucklige Straße zu überqueren hatte, mit dem Katzensprung zum Konsum, der über geheime Schleichwege führte, zu vergleichen, fragte es nie, wie lang so ein Katzensprung eigentlich sei. Man sagte auch nicht Katzensprünge; den Katzensprung gab es nur im Singular, ganz gleich, wie viele und wieviel verschiedene Wegstrecken damit umschrieben wurden.
         Jüngst habe ich meinem Onkel, der noch immer im selben Dorf wohnt, einen Besuch abgestattet. Vom Bahnhof ist es logischerweise nur ein Katzensprung bis zu seinem Häuschen, das ein üppig blühender Vorgarten ziert. Seit ich selbst einen erwachsenen Neffen habe, sage ich nicht mehr Onkel, zur dritten Frau meines Onkels habe ich nie Tante gesagt. Aber auch das gehört nicht hierher. Mich interessiert, was aus den anderen Katzensprung-Objekten geworden ist. Der Festsaal? Fehlanzeige. Nicht einmal mehr die Lücke, wo er einst stand, ist geblieben; ein gut gepflegter Rasen mit Bänken löscht jede Erinnerung an das Gebäude, das ich mir als ein Polygon aus Ziegeln, Holz und Dachschiefer zurechtbastle. Keine Ahnung, ob er wirklich so ausgesehen hat. Der Konsum? Der leerstehende Flachbau barg zuletzt eine Niederlassung für Gärtnerbedarf. Inzwischen ist auch dieser Handel unrentabel geworden. Bäcker & Fleischer, da weiß selbst der Einheimische kaum noch, wo sie sich befanden. Es waren Läden in Wohnhäusern, die man über eine Außentreppe oder durch einen winzigen Anbau betrat. Die Schaufenster, falls es welche gab, sind längst vermauert, das Mauerwerk neu verputzt und überstrichen. Nur wer genau hinschaut, bemerkt vielleicht noch einen Wechsel in der Körnigkeit des Mörtels, falls nicht Dämmplatten jede Unterscheidung unmöglich machen. Zum Einkaufen muß der Dörfler in die nächste Stadt fahren. Die war immerhin mal Kreisstadt und hat von daher ein viel zu großes Rathaus. Allein die Kirche ist im Dorf geblieben. Das ist ja auch nicht schlecht. Haben wir den Katzensprung zum Kirchberg geschafft, sehen wir gleich, daß über die schadhaften Treppen schon lange keine Schar Gläubiger mehr Einlaß begehrt hat. Dabei stand sie schon einmal fast zwanzig Jahre ohne Turm da. Zwar wurde der Turm rekonstruiert, allein die Kirchgänger blieben aus.  Wenigstens schlägt die Uhr pünktlich alle Viertelstunden. So ist das nun auf dem Lande, sagt der Onkel und streichelt seinen prächtigen Kater, der schon Winterfell hat. Der Kater kennt keine Versorgungslücken. Ist die Amsel nicht flink genug, wird sie im Katzensprung aus der Rotdornhecke gegrapscht.





Ein schlafloses Haus
das mit Schnurren gefüllt ist
und den Eindringling am Schlafittchen packt.

Im Keller hängt ein Blümerant in den Spinnweben.
Die Durchgänge sind mit Schwellenangst bestrichen.

Im Treppenhaus lauert der Kniefall
auf den unteren Stufen lungert die Demut herum
und auf den oberen spukt die Verunsicherung.

In der Küche herrscht das Tohuwabohu.
Zwischen Brosamen windet sich der Geduldsfaden.

Im Schlafgemach plustert sich Lumpenpack
in das Lichtangeln eingewebt sind.
Ein Geflissentlich huscht über die Flure.

Nur immer hinein in den Salon der Bekümmernis
mit seiner Gardinenpredigt
und dem Dahinwelken seines Stillebens!

Allein das Oberstübchen
gebärdet sich frohgemut
und kehrt den Hansdampf heraus.

Zahnspangenfrech grinst der Weiland vom Dach.








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