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Montag, 11. November 2013

Bruderbande

Rezension zu: Jörg Magenau „Brüder unterm Sternenzelt“ 


Seit dem Tod Ernst Jüngers sind bereits 15 Jahre vergangen. Und noch immer taugen seine Person und sein disparates Schaffen für Kontroversen. Titel wie „Der Kampf als inneres Erlebnis“ (1922) oder „Die totale Mobilmachung“ (1931) sind auch für Bewunderer seiner reifen Prosa mit dieser nur schwer in Einklang zu bringen.
Ganzheitliches Denken, Fragen nach den Perspektiven des Universums und welche Rolle der Mensch darin spielt, prägen vor allem sein Spätwerk. Vieles davon nimmt Diskussionen um Klimawandel und Globalisierungsfolgen vorweg, und sicher gibt es hier noch manches zu entdecken, was sich vom momentanen Aktionismus in der Politik wohltuend abhebt. Dagegen stand das Werk Friedrich Georg Jüngers immer im Schatten des Autors der „Stahlgewitter“. Es umfasst Lyrik, Erzählungen, mehrere Romane und kulturgeschichtliche Abhandlungen. Letztere waren Ergebnis oder Ausgangspunkt eines lebenslangen Dialogs unter Brüdern, und haben nicht selten Ernst Jüngers Positionen beeinflusst. Wie stark etwa der Eindruck von Friedrich Georgs zivilisationskritischen Essay „Die Perfektion der Technik“ (1949) und seiner anderen theoretischen Schriften auf den drei Jahre älteren Bruder war, auch davon erzählt Jörg Magenaus beachtenswerte Doppelbiographie „Brüder unterm Sternenzelt“. Es ist sein Verdienst, der Gestalt Friedrich Georg Jüngers neben der des berühmteren Bruders den ihr gebührenden Rang einzuräumen, ihr Kontur und Stimme zu geben und damit auch Ernst Jünger in einem gleichsam weicheren Licht zu zeichnen.
         Zu Beginn nimmt Magenau seine Leser mit ins Arbeitszimmer des hundertjährigen Ernst Jünger nach Wilflingen. „Er wartete nicht auf den Tod. Der Tod war immer schon da, war ein Bruder, ein guter Freund. Irgendwann würde er ihm die Hand reichen und hinübertreten auf die andere Seite der Dinge“. (S.9) Auf dieser anderen Seite befindet sich Friedrich Georg seit fast zwanzig Jahren. Die Bilder der Toten dienen Ernst zur Zwiesprache und zur Vergewisserung; sie sind Teil seiner Sammelleidenschaft geworden wie die „letzten Worte“, wie Mineralien und Käfer, Sanduhren oder die martialischen Andenken aus dem Ersten Weltkrieg. Hier schließen sich alle Kreise, hier lagern die Schichten, Sedimenten gleich, aus denen der greise Dichter seine Träume empfängt und Erinnerungen schöpft. Und die an den Bruder sind oft die intensivsten. Schon ein Vogellaut kann sie auslösen. Denn wie Ernst in die Ordnungen der Insekten eindrang, um den Welträtseln auf die Spur zu kommen, waren es für Friedrich Georg die Vögel, denen seine Leidenschaft galt. „So einen Bruder zu haben ist ein Glück. So ein Bruder ist ein Geschenk. Das Gespräch mit ihm war der Maßstab für alle anderen Gespräche. Es war eine Form der Osmose, ein tiefenwirksamer und lebensnotwendiger Austausch von Substanz.“ (S.12)  Das Sterben des Bruders 1977 war denn auch eine so schmerzhafte Zäsur im Leben des Älteren, dass Magenau es im Prolog schon vorwegnimmt.
         Dieser mit „Luft“ überschriebene Prolog gibt die Methode vor, auf welche Art Jörg Magenau uns das Jüngersche Biotop erschließen möchte. Nicht die äußeren Ereignisse und nicht die Zeitachse bilden das Gerüst, vielmehr die Landschaften und die „vier Elemente“, in denen die Brüder zu Hause waren. Die sieben Kapitel heißen Moor, Feld, Städte, Gärten, Höhlen, Wald und See, und sie gliedern sich (zusammen mit dem Prolog) in 27 Unterkapitel denen jeweils eines der Elemente Feuer, Wasser, Erde oder Luft vorangestellt ist. Rückbesinnungen des Hundertjährigen (Wilflingen 1996) werden dabei immer wieder eingeschoben. So ergibt sich ein vielfach belichtetes Bild, das die ineinander greifenden Lebensläufe der Brüder nach ihren bevorzugten Aufenthaltsorten oder Sehnsuchtsräumen ordnet, ohne das Geflecht der politischen und sozialen Bindungen zu vernachlässigen. Das hat die Qualität eines biographischen Romans, es macht die 300 Seiten zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, auch wenn die Zuordnungen mitunter ein wenig willkürlich anmuten. Ob man die Jahre 1933 bis 1943 – von den Reaktionen der Brüder auf den Reichstagsbrand bis zu Ernst Jüngers militärischer Inspektion im Kaukasus – wirklich unter dem Aspekt „Gärten“ subsumieren möchte, sei dahingestellt. Vielleicht aber werden so die Brüche zwischen stilisierter Selbstdarstellung (sowohl bei Ernst als auch bei Friedrich Georg) und den zusammengetragenen Fakten umso deutlicher. Wirklich bedauerlich finde ich allerdings das Fehlen eines Personenregisters, von Bibliographie und Zitaten-nachweis. Das erschwert nicht nur das Wiederfinden im Text, sondern lässt auch jeden verzweifeln, der den zahlreichen Funden Magenaus einmal selbst nachspüren möchte.
         Unter den vier Geschwistern Ernst Jüngers ist Friedrich Georg derjenige, zu dem er sich am meisten hingezogen fühlt. Schon als Kinder verbringen die Brüder ihre Zeit am liebsten auf gemeinsamer Pirsch durch Moore und Wälder, beim Botanisieren und Bestimmen von Pflanzen, beim Beobachten der Tierwelt rund um das Steinhuder Meer, wo der Vater, ein erfolgreicher Pharmazeut und Apotheker, ein ansehnliches Grundstück erworben hatte. Diese Jahre werden ihnen zeitlebens als die paradiesischen erscheinen, trotz der häufigen Schulverweise von Bruder Ernst und der strengen Erziehung im Elternhaus. Hier bekommen sie ihre entscheidenden Prägungen mit – den national-konservativen Geist der Epoche ebenso wie das positivistische naturwissenschaftliche Weltbild des Vaters und die musischen Neigungen der Mutter.
         Ernst ist derjenige von beiden, dem diese Welt bald zu eng wird. Als er sich 17jährig bei Nacht und Nebel davonmacht, um in die französische Fremdenlegion einzutreten und endlich nach Afrika, dem Kontinent seiner Sehnsucht, zu gelangen, weiht er Fritz, den Jüngeren, nicht in seine Pläne ein.  Fritz leidet unter der Trennung und dem Vertrauensbruch sehr, doch wird es ihn später umso mehr drängen, sich dem Älteren als ebenbürtig zu erweisen. Gelegenheit dafür bietet der Erste Weltkrieg, den Ernst wie eine Erlösung begrüßt, in dem er von Anfang an in den Schützengräben Frankreichs kämpft. Fritz meldet sich zwei Jahre später freiwillig. Während Ernst Jünger als Stoßtruppführer in vorderster Linie steht und diesen Krieg später zum Gegenstand seines Eintritts in die Literatur macht, wird Fritz durch einen Lungenschuss lebensgefährlich verletzt, ohne je selbst einen Schuss abgegeben zu haben. Einem Zufall nur ist es geschuldet, dass Ernst auf seinen verletzten Bruder stößt und Maßnahmen zu dessen Abtransport in ein Lazarett anordnet. Den Brüdern wird dieses Erlebnis zum Wink des Schicksals, und es schmiedet sie nur noch enger aneinander und begründet den Mythos von ihrer Unverletzlichkeit. Freilich nagt an Friedrich Georg auch das Gefühl, versagt zu haben. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, warum er, der sensible, öffentlichkeitsscheue und die Einsamkeit Liebende, in den zwanziger Jahren die militant-nationalistische Publizistik des Bruders an Schärfe noch in den Schatten stellt. Den verlorenen Krieg, die Novemberrevolution und den Versailler Vertrag empfinden beide als Schande für Deutschland, die Weimarer Republik ist ihnen gleichermaßen verhasst, und die Annäherung an die radikalsten und militantesten Gruppen im rechten Spektrum dieser Zeit nur folgerichtig. Berichte von Zeitgenossen, wie Ernst Niekisch oder Ernst von Salomon, runden das Bild ab. Jörg Magenau beschönigt die Jahre der Radikalisierung nicht, enthält sich aber weitgehend nachgeborener Besserwisserei, vielmehr überlässt er es dem Leser, sich sein Urteil zu bilden.
         Ohne sich sklavisch an die Chronologie zu halten, lässt Magenau die wechselnden Orte und historischen Ereignisse, an denen die Charaktere der Brüder und damit ihr umfangreiches Werk sich formen, Revue passieren. Atmosphärische Dichte erlangen vor allem Passagen, die das Geflecht an familiären und freundschaftlichen Bindungen inmitten oder auch jenseits der politischen Grabenkämpfe aufzeigen. Etikettierungen, wie sie teils durch die öffentliche Wahrnehmung, teils aber auch durch Selbstinszenierung entstanden sind, werden hinterfragt und notfalls korrigiert. Weder das Bild des kalten und distanzierten Beobachters für Ernst, noch das des Stoikers im Elfenbeinturm für Friedrich Georg Jünger lassen sich aufrecht erhalten, wenn man von ihrer Teilnahme am aleman-nischen Fasnachtstreiben oder an den wiederkehrenden Festen des Kirchenjahrs liest, wie überhaupt der Hang zur Geselligkeit bei beiden einen ebenso hohen Stellenwert einnimmt wie das Leben nach dem Bauernkalender, nämlich zyklisch, den Jahreskreis durchschreitend.  Ist einer der Brüder mal nicht mit von der Partie, wird er im nächsten Brief von den Ereignissen unterrichtet. Zu den Sternstunden brüderlicher Eintracht gehören die gemeinsamen Reisen – etwa nach Sardinien, lange vor den ersten Pauschaltouristen und stets mit Tuchfühlung zur bäuerischen Bevölkerung. Man erfährt, welchen Rückhalt die Brüder in ihren Familien hatten, welche Rolle die Ehefrauen spielten und was denen zuweilen auch aufgebürdet wurde. Vor allem Friedrich Georg hält engen Kontakt zu den Eltern, die seit den zwanziger Jahren im sächsischen Leisnig wohnen. Nach dem Tod des Vaters, 1943, bleiben Mutter und der jüngere Bruder Hans in der sowjetischen Zone und werden damit für Ernst und Fritz unerreichbar. Als Ernst Jüngers ältester Sohn am Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien fällt, widmet ihm Friedrich Georg eines seiner innigsten Gedichte. Unter den zahlreichen Gästen, die bei Friedrich Georg am Bodensee oder bei Ernst in Wilflingen einkehren, sind während der Nazizeit auch erklärte Gegner des Systems, sogar einige der späteren Verschwörer vom 20. Juli 1944.  Auch der Philosoph Martin Heidegger gehört zu den engsten Vertrauten.
         Über Ernst Jüngers Aversionen gegen die NSDAP und die Machtergreifung Hitlers ist schon viel geschrieben worden. Jörg Magenau erweitert die Sicht auf Friedrich Georgs Gründe für die Ablehnung der Nazidiktatur. Besonders deren Rassentheorie und der Judenhass, aber auch die Rohheit der Ideen, der dumpfe Germanenkult sind ihm, dem Liebhaber der griechischen Antike, zutiefst zuwider. Dass beide Brüder darin nur eine Ausgeburt der Weimarer Demokratie sehen – diese Ansicht teilen sie mit vielen Zeitgenossen aus dem rechts-konservativen Lager.
Der Zweite Weltkrieg trennt die Brüder für die längste Zeit ihres Lebens. Ernst ist als Hauptmann der Wehrmacht in Paris stationiert, Friedrich Georg, der aufgrund seiner Kriegsverletzung nicht eingezogen wird, lebt als Schriftsteller am Bodensee. In der illusionslosen Beurteilung der Lage sind sie sich weitgehend einig. Dennoch erleben sie das Kriegsende nicht als Befreiung, sondern als Niederlage, wobei sie meinen, Besatzerwillkür und den Verlust des deutschen Ostens gegen die Kriegsverbrechen der Nazis aufrechnen zu müssen. Und wieder darf man es Magenau, als ehemaliger Redakteur von „taz“ oder „Freitag“ doch eher links verortet, hoch anrechnen, dass er den pädagogischen Zeigefinger tunlichst in der Tasche behält.
         Sieht man von dem mehrjährigen Publikationsverbot für Ernst Jünger nach 1945 ab – er hatte sich geweigert die Fragebögen zur Entnazifizierung auszufüllen, wie er es auch ablehnte, sich von seinen frühen Texten zu distanzieren – erscheint nun in rascher Folge das, was sich bei beiden Brüdern an Material in den Kriegsjahren angesammelt hatte und was in den Nachkriegsjahren hinzukommt. Eine reiche Ernte, die sowohl Wandlung als auch Kontinuität bezeugt. Erwähnt seien hier nur Ernst Jüngers richtungweisende Essays „Der Waldgang“ und „An der Zeitmauer“ und von Friedrich Georg neben „Perfektion der Technik“ der Roman „Zwei Schwestern“, Gedichtsammlungen und drei Bände mit Novellen. Und während sich Friedrich Georgs Werk in den sechziger und siebziger Jahren fern aller modischen Attitüden  vollendet und zu unrecht wenig Beachtung findet – mit Sicherheit sind da noch Schätze zu heben –, so beginnt für Ernst Jünger erst die aus meiner Sicht wesentlichste Phase seines Schaffens, die mit dem Kindheitsroman „Die Zwille“ und den bis übers hundertste Lebensjahr fortgeschriebenen Tagebüchern „Siebzig verweht“ einsetzt. „Wald“ und „See“ beschließen bei Jörg Magenau den Reigen der symbolischen Orte als Kraftzentren, aus denen die Brüder ihre Energie schöpfen. Dasselbe gilt für die „vier Elemente“. Das letzte Unterkapitel führt noch einmal nach „Wilflingen 1996“. Es gebührt dem Element „Erde“ – die Stimmen der Toten rufen von dort. „So würde alles wiederkehren, würde sich wandeln und ewig gewesen sein. (…) Die Welt die er kannte, würde zugrunde gehen und neu erstehen. Auch die Götter würden zurückkommen, so wie der Halleysche Komet. Bis dahin würde es noch eine Weile dauern. Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende. Aber was sind schon Jahrtausende. Letzthinnig, dachte er mit einem Wort von Schelling, letzhinnig bin ich Optimist.“ (S.312)


Jörg Magenau:„Brüder unterm Sternenzelt“ 315 S., Klett-Cotta 2012. 22,95€


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